ERNST JANDL

Ernst Jandl und die Musik

Jandl wünscht sich von seinen Gedichten, dass sie sich dem Gesang, dem Wohlklang entziehen - dass er lebenslang ein intensives Verhältnis zur Musik besitzt, steht dem keineswegs im Widerspruch. In einigen Äußerungen erweckt er sogar den Eindruck, als wäre er lieber Musiker als Schriftsteller geworden. Jandl: "Wenn ich Musik machen könnte, würde ich keine Gedichte machen, oder nur ganz nebenbei."

Allerdings legte es Jandl keineswegs darauf an, mit seinen Gedichten in große Nähe zur Musik zu kommen. Ihn faszinierte Musik; beschäftigte er sich jedoch mit Gedichten, dann setzte er sich mit dem auseinander, woraus Gedichte bestehen: mit Sprache, ihren speziellen Formen und Inhalten. Trotz dieser strikten Trennung besteht eine untergründige Verbindung zwischen beiden Bereichen. Einige seiner Gedichte haben eine gewisse Verwandtschaft zum Jazz. Sie sind kurz, haben einen nervösen, vorantreibenden Beat wie der Bebop in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren zu dem Jandl eine enge Verbindung entwickelt. Außerdem hat Jandl wichtige Anstöße zu neuen Gedichten durch die Musik erhalten. Den Sprechgedichten ist die nähere Bekanntschaft mit dem Jazz vorausgegangen, und bevor Jandl die "stanzen" geschrieben hat, war er auf den Rap gestoßen. Mitte der sechziger Jahre werden Jandls Gedichte von Musikern entdeckt, zögernd zunächst, ab Anfang der achtziger Jahre dann von einer größer werdenden Zahl. Eine Entwicklung setzt ein (nur schwach unterstützt durch den rasch anschwellenden und bald abklingenden Boom, Jazz und Lyrik miteinander zu kombinieren), die Jandl unter den Dichtern zu den am meisten gehörten und gespielten Lyrikern macht. Die Musiker sehen sich durch Jandls Werk herausgefordert, neue Wege auf ihrem Gebiet zu gehen, und dadurch wird Jandls Werk auf eine beispiellose Weise vertont, rezitiert, mit und ohne seine Mitwirkung auf Platten zugänglich gemacht: Das "musikalische" Moment in seinen Gedichten scheint diese zweite Karriere Jandls, die nur noch locker mit den Büchern verbunden ist, zu begünstigen und ihm, auch da zählt Jandl unter den Dichtern zu den Ausnahmen, eine ganz neue Form von Überleben zu ermöglichen: in den neuen Medien.

Textauszug aus a komma punkt

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Gedichte

»zweierlei handzeichen«

ich bekreuzige mich
vor jeder kirche
ich bezwetschkige mich
vor jedem obstgarten

wie ich ersteres tue
weiß jeder katholik
ich ich letzteres tue
ich allein

(In: Laut und Luise, Bd. 2)

»sieben kinder«

wieviele kinder haben sie eigentlich? - sieben
zwei von der ersten frau
zwei von der zweiten frau
zwei von der dritten frau
und eins
ein ganz kleins
von mir selber

(In: dingfest, Bd. 5)

»Glückwunsch«

wir alle wünschen jedem alles gute:
daß der gezielte schlag ihn just verfehle;
daß er, getroffen zwar, sichtbar nicht blute;
daß, blutend wohl, er keinesfalls verblute;
daß, falls verblutend, er nicht schmerz empfinde;
daß er, von schmerz zerfetzt, zurück zur stelle finde
wo er den ersten falschen schritt noch nicht gesetzt -
wir jeder wünschen allen alles gute

(in: der gelbe hund, Bd. 8)

Hörproben

»sieben kinder«
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